Leseprobe

14. Dezember 2021 • 8:01 Uhr

Der neue Drehstuhl in Georgs Büro fühlte sich ungewohnt an. Die Rückenlehne war noch steif und die Armlehnen waren zu schmal. Wenn Georg seine Arme darauf betrachtete, wirkten sie wabbelig. Die Haut quoll an den Seiten hinunter wie Strudelteig. Er hatte in München zu wenig Energie in seinen Körper investiert, sich zu sehr gehen lassen. Nun würde er zurückfinden in die alten Routinen. Er wollte wieder Sport treiben und auf seine Ernährung achten. Heute Nachmittag hatte er einen Termin bei seiner Kosmetikerin, die ihm die furchtbaren Hautunreinheiten ausquetschen würde. Dann stand noch ein Ganzkörperwaxing auf dem Programm. Und vor dem ganzen Prozedere ein Treffen zum Mittagessen mit seinem Freund Jan. Es fehlte nicht viel und er würde wieder der Alte sein. Wären die Armlehnen so breit wie bei seinem früheren Sessel, den er damals hier zurückgelassen hatte, würde ihn der Anblick nicht so irritieren. Sie hatten mehr Platz geboten. 
Er sehnte sich nach dem alten Bürostuhl. Dennoch war dieser das Erste gewesen, das nach Georgs Rückkehr ins Parkhotel aus dem Büro geflogen war. Niemals hätte er sich dazu überwinden können, sich auf den Sessel zu setzen, auf dem erst sein Cousin Philipp den Hotelbetrieb ins Chaos gestürzt und danach sein Vater seinen fetten Soyer-Hintern platziert hatte. Der alte Soyer, der Möchtegern-Retter. Nur kurz war er breitärschig durch das Hotel stolziert. Jetzt war Georg wieder da.
Dem Stuhl folgten die Schreibunterlage, die benutzten Kaffeetassen, sämtliche Kugelschreiber und das Festnetztelefon. Ekelhaft. Er hatte die eingetrockneten Spucketröpfchen seines gelackten Cousins darauf gesehen, genauso wie den wütenden Mundschaum seines Vaters, der sich gebildet hatte, wenn er jemanden angeschrien hatte. Niemand würde die beiden vermissen. Georg schon gar nicht. 
Was man nicht erlaufen kann, muss man erwarten können, hatte Großvater immer gemeint. Und genau so war es gekommen. Endlich saß Georg an den Schalthebeln der Soyer-Group. Er war an seinem Ziel angelangt. Als er darüber in Kenntnis gesetzt worden war, hatte er keine Sekunde lang gezögert. Er hatte seine Sachen zusammengepackt, den Mietvertrag für die reizende Stadtwohnung mitten in München aufgelöst und war nach Linz zurückgekehrt. Der Abschied von München war ihm leichtgefallen. Neue, oberflächliche Bekannte hatte er gar nicht über seine Abreise informiert. Der betörenden Denise, die er beinahe vom ersten Tag an regelmäßig getroffen hatte, hatte er eine WhatsApp-Nachricht geschickt. Aber anstatt ihn anzuflehen, nicht zu gehen oder mit ihm nach Linz ziehen zu dürfen, war nichts gekommen. Schweigen. Keine Antwort. Ein paar Tage hatte ihn das gestört, denn was bildete diese Kuh sich eigentlich ein? So einen wie ihn würde sie so schnell nicht mehr finden!
Die Munich Business School hatte volles Verständnis für seine Verpflichtungen gezeigt. Man stellte das auf ihn persönlich zugeschnittene Trainingsprogramm, zu dem sein Vater ihn verdonnert hatte, um ihn loszuwerden, kurzerhand auf E-Learning um. Obwohl er seine neue Verantwortung von überall auf der Welt wahrnehmen konnte, kam für ihn von Beginn an nur Linz in Frage. 
Dort waren seine Freunde, dort war Marleen. Also Greta. Herauszufinden, dass Marleen eigentlich Greta Marleen hieß und die Zwillingsschwester seines besten Freundes Konstantin war, hatte ihn umgehauen. Und die Tatsache, dass ausgerechnet sie die Unbekannte auf seinem Lieblingsfoto war – dem großen Bild, das im Schlafzimmer seiner Stadtvilla hing; dem Bild, das er während einer Dienstreise in einer italienischen Galerie erstanden hatte –, erst recht. Es hatte von Beginn an eine unerklärliche Faszination auf ihn ausgeübt. Wahrscheinlich hatte er sich gerade deshalb so zu Greta hingezogen gefühlt. Sie war schon lange vor einer wirklichen Begegnung in sein Leben getreten. Und sie wäre bereit gewesen, mit ihm nach München zu gehen. Sie hätte Linz für ihn aufgegeben. Das alles hätte sie für ihn getan, wenn sie nicht dieses Foto von sich in seinem Schlafzimmer gesehen hätte. Sie hatte sich umgedreht und war gegangen. Tagelang hatte er nichts von ihr gehört. Seine Anrufe ignorierte sie genauso wie seine flehenden Nachrichten. Wenige Tage vor seiner Abreise schickte Greta ihm eine Kurznachricht. Darin outete sie sich als Konstantins Schwester und wies ihn an, seinem Freund nichts von dem zu erzählen, was zwischen ihnen passiert war. Außerdem bat sie Georg, sie in Ruhe zu lassen und sie zu vergessen. Den Zusammenhang zwischen dem Bild und ihrer Flucht erklärte sie nicht. 
Er hatte wenig Hoffnung, Greta in naher Zukunft wiederzusehen. Gleich nach seiner Rückkehr hatte er versucht, sie telefonisch zu erreichen. Sie hatte die Nummer gewechselt. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sich ihre Wege wieder kreuzen würden. Linz war eine verhältnismäßig kleine Stadt, und auch wenn Konstantin nichts über das Verhältnis zwischen seiner Schwester und Georg wusste, stellte er ein nicht ganz unbedeutendes Bindeglied und Informationsportal dar. 

Was man nicht erlaufen kann, muss man erwarten können.

»Bitte lassen Sie das Büro noch einmal putzen. Hier stinkt es. Und beauftragen Sie eine Firma mit der Reinigung der Vorhänge«, wies Georg Pamela, seine Sekretärin, im Vorbeigehen an. »Das Telefon ist auf Sie umgeleitet. Wir sehen uns morgen wieder!«, rief er noch. Er drückte den Rufknopf des Fahrstuhls. Dann fuhr er die sechs Etagen abwärts in die Lobby des Hotels. Sein Blick fiel auf den neuen Rezeptionsleiter hinter der wuchtigen Theke. Philipp hatte ihn eingestellt. Georg hätte niemals einen Mann dorthin gesetzt. Dennoch war es eine der wenigen Angelegenheiten, die Vaters Protegé nicht komplett vermasselt hatte: Die Gäste waren zufrieden, der Neue hatte den Empfangsbereich im Griff und war demütig, so wie Georg es gerne hatte. Aber immer, wenn er den Rezeptionisten Samuel Behr sah, dachte er an Olivia. Die Olivia, die beinahe täglich dort gesessen hatte. Die, die ihm ein Kind hatte andrehen wollen, um ihn in Ketten zu legen. Doch der Zufall hatte sie die Treppe hinunterfallen lassen und die Schwangerschaft war von einem Moment auf den anderen passé gewesen. Dass sie seither verschwunden war, missfiel ihm nicht. Und über ihre unerhörte Art, sich von ihm zu verabschieden, hatte ihn Marleen hinweggetröstet. Greta … sie hieß doch Greta, verdammt noch mal! Wann würde das endlich in seinen Schädel gehen? 
Gut, dass Konstantin nichts über sein Verhältnis mit dessen Schwester wusste. So schnell und heftig, wie es angefangen hatte, so überraschend und brutal war es auch wieder zu Ende gewesen. Wie ein Schwächling war er drauf und dran gewesen, an ihrem Abgang zu zerbrechen. Der Umzug nach München hatte ihn vor Schlimmerem bewahrt.
Nach seinem prüfenden Rundgang durch den Empfangsbereich und das Restaurant wechselte er noch einige Worte mit Lars, dem Restaurantchef. Er war ein guter Mann, der hinter dem Hotel stand und auf den er sich verlassen konnte. Georg wusste, dass der Erfolg der Soyer-Group von erfahrenen, wohlgesinnten Mitarbeitern, wie Lars es einer war, abhing. Nach der kurzen Plauderei lief er die Treppe hinunter in die Tiefgarage, ließ den Motor des neuen Wagens an und fuhr in Richtung Agentur seines Freundes Jan.