Die Bedeutung eines „Dritten Ortes“
Vor kurzem stolperte ich über einen Artikel in Der Standard, der sich mit der Frage befasst, warum wir einen „Dritten Ort“ – einen Ort neben dem Zuhause und unserem Arbeitsplatz – brauchen. Seither beschäftige ich mich näher mit der Bedeutung eines solchen Dritten Ortes für mich, für die Menschen, im Speziellen für Autoren und außerdem für Figuren in Romanen.
Viele von uns verbringen die meiste Zeit entweder zu Hause oder am Arbeitsplatz. Diese Orte erfüllen eine wichtige Funktion in unserem Leben. Sie befriedigen jedoch oft nicht alle sozialen, kreativen und emotionalen Bedürfnisse, die wir haben. Forscherinnen und Forscher beschäftigten sich zunehmend mit der Wichtigkeit eines Dritten Ortes für unser Wohlbefinden und unsere soziale Interaktion, eines Ortes außerhalb der eigenen vier Wände und abseits des Arbeitsplatzes.
Was ist ein Dritter Ort?
Der Soziologe Ray Oldenburg prägte den Begriff des Dritten Ortes und bezieht sich dabei auf Orte, an denen Menschen sich regelmäßig treffen, um soziale Bindungen zu knüpfen, Ideen auszutauschen und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu erleben. Fachleute leiteten von Oldenburgs Buch Kriterien ab, die einen solchen Dritten Ort ausmachen:
- Es sollte sich um einen neutralen Ort handeln.
- An dem Ort kann sich jeder aufhalten, aber niemand muss.
- Der Ort soll allen offenstehen.
- Er sollte einladend sein und nicht elitär.
- Status und Einkommen spielen wenig/keine Rolle.
- Im Vordergrund stehen Gespräche und das spontane Entstehen von Gemeinschaft.
- Stammgäste prägen den Charakter des Ortes.
- Der Ort fühlt sich an wie ein zweites Zuhause.
Diese Kriterien sind selbstverständlich nicht immer alle erfüllt, und dennoch haben sehr viele Plätze das Potenzial, der Dritte Ort für uns zu sein.
Beispiele für Dritte Orte
- Cafés und Restaurants: Sie verströmen eine informelle und einladende Atmosphäre. Menschen finden sich dort ein, um Kaffee zu trinken, etwas zu essen, andere zu treffen und Gespräche zu führen.
- Bibliotheken oder Gemeindeeinrichtungen: Sie bieten oft Bildungs- und Kulturveranstaltungen an und bringen so Menschen jeden Alters zusammen, um zu lernen, zu diskutieren und sich zu engagieren.
- Parks, Einrichtungen (wie Fitnessstudios) und öffentliche Plätze: Sie bieten den Raum für Freizeitgestaltung, Sport, Spiele und Picknicks und eigenen sich als Treffpunkt für Menschen, die ähnliche Interessen haben, sich sportlich verausgaben oder die Natur genießen möchten.
- Museen und Galerien: Kunst vereint. Selbst wenn man keine tiefen Gespräche mit den anderen Besuchern führt und keine direkten Kontakte knüpft, fühlen Menschen eine Verbindung zu den Werken und gleichgesinnten Kunstliebhabern.
Wo ist mein Dritter Ort?
Spontan hatte ich mein Schreibbüro im Sinn. Ich habe das Glück, dass ich meiner Leidenschaft an einem Ort nachgehen kann, den ich mir als Oase eingerichtet habe. Mein Schreibbüro ist eine Kraftquelle abseits des Zuhauses und abseits der verschiedenen Seminarräume und Klassenzimmer, in denen ich meine Trainings abhalte. Das Schreiben ist jedoch auch ein Teil meiner Arbeit, daher ging ich bei der Frage nach meinem Dritten Ort gedanklich einen Schritt weiter; mit folgendem Ergebnis:
Es gibt nicht den einen Dritten Ort für mich, sondern drei mit unterschiedlicher Stoßrichtung. Einerseits ist da die kleine Gemeindebibliothek, die ich in regelmäßigen Abständen besuche. Dort kenne ich alle Mitarbeitenden, zum Teil sogar recht gut, sodass ich mich durch meine Besuche in einem regelmäßigen Austausch mit ihnen befinde. Spannend dabei ist, dass man vorher nie weiß, wer Dienst hat. Man darf sich also auf eine spontane Begegnung mit einer bekannten Person freuen, ohne sich darauf vorbereiten zu können; und das auch noch umringt von Büchern.
Daneben gibt es noch zwei weitere Orte, die sich als Dritte Orte qualifiziert haben. (Fast) jeden Samstagvormittag verbringe ich mit meiner Familie auf einem Markt. Wir besuchen die Stände, kaufen ein, plaudern mit den Standbesitzern, begegnen Menschen, die offenbar ein ähnliches Ritual pflegen wie wir, und unterhalten uns bei einer Tasse Kaffee – in der Sonne stehend – mit ihnen, ohne ihre Namen zu kennen. Manche sieht man häufiger. Man wächst in eine oberflächliche Gemeinschaft hinein und teilt wohltuende Momente miteinander.
Der zweite wöchentliche Fixpunkt ist ein Kaffeehausbesuch, während meine Tochter ihre Yogaeinheit besucht. Die Zeit ist begrenzt auf eine knappe Stunde. Ich fülle sie aus mit dem Genießen meines Lieblingseisbechers, einem immer wechselnden Getränk und dem Schreiben von Notizen zu meinem aktuellen Schreibprojekt. Manchmal lausche ich den Gesprächen am Nebentisch, beobachte und genieße. Von all diesen Orten ist der letztgenannte jener, der meine Kreativität und mein mentales Wohlbefinden am stärksten beeinflusst.
Der Dritte Ort wirkt sich nicht nur positiv auf unsere Kreativität und seelische Gesundheit aus, sie fördert auch die Gemeinschaft und hilft uns, ein anspruchsarmes soziales Netzwerk rund um uns zu erschaffen. Ein Aufeinandertreffen mit Menschen passiert in einem Rahmen, der uns wenig abverlangt, der auf absoluter Freiwilligkeit beruht und Spielraum für Spontanität lässt.
Ein Dritter Ort im aktuellen Schreibprojekt
Da ich davon überzeugt bin, dass man die Kraft eines solchen Dritten Ortes nicht unterschätzen darf, habe ich für die Protagonisten in meinem neuen Schreibprojekt mit dem Arbeitstitel „Quereinsteiger“ einen solchen geschaffen. Es handelt sich um ein altes Gebäude, das dem ebenfalls alten Künstler Peter gehört. Das Kellergeschoß des „Peters“ hat er ausgebaut, kuschelige Sitzgelegenheiten geschaffen, eine Bühne errichtet, einen Raum mit Kostümen und Theaterschminke ausgestattet. Jeder ist im „Peters“ willkommen. Vor allem junge Menschen, die die nahe Universität besuchen, kommen regelmäßig. Aber auch in der Künstlerszene der Stadt ist das „Peters“ beliebt. Die Leute treffen sich. Sie unterhalten sich zwanglos, diskutieren tagesaktuelle Themen, singen, lesen sich gegenseitig vor, improvisieren alte Theaterstücke neu. Eine kommt fast täglich hin und schweigt die meiste Zeit. Sie isst nur ihr Sandwich, blättert in einem Buch und geht wieder. Man kennt sich, aber auch irgendwie nicht. Es ist ein bezaubernder Ort, von dem ich wünschte, es gäbe ihn, denn es könnte mein liebster Dritter Ort werden.