Leseprobe

22. November 2020 • 20:12 Uhr

Mimi stand im Flur. Er bot kaum Platz für sie und ihren alten, braunen Koffer. Düster und beengt lag das Zimmer vor ihr, ganz anders als auf den Fotos im Internet. Es gab einen winzigen Balkon mit Blick auf die Donau und ein Fenster neben dem bescheidenen Schrank für das Geschirr. Die Küchenzeile erinnerte sie an jene in dem alten Puppenhaus, das Papa für Marie und sie gebaut hatte: ein Herd in Spielküchengröße, zwei Kochplatten, daneben ein Spülbecken und kaum Stauraum. Das Modernste war noch der monströse freistehende Kühlschrank aus Edelstahl, der den Wohnraum dominierte.
Mimi zog die Schuhe aus und stellte sie vor die Haustür. Ihre Socken klebten am schmutzigen Boden fest, als sie die ersten Schritte in ihr neues Zuhause wagte. Ihre erste eigene Wohnung. Bis vor ein paar Wochen hatte hier ein Langzeitstudent in seinen Dreißigern gehaust, der über Nacht entschieden hatte, mit seinem Kumpel eine Strandbar in Australien aufzumachen. Nach dem kurzen Rundgang stellte sie sich in die Mitte des einzigen Raumes, der Küche, Schlafmöglichkeit und Wohnzimmer zugleich war. Daneben gab es nur den Flur und ein Bad mit Toilette. Endlich wurde Mimi klar, warum der Makler auf Eile beim Vertragsabschluss gedrängt hatte. Zimmer und Möbel waren in einem erbärmlichen Zustand. Und der Abfluss im Bad stank widerlich.
Ohne einen einzigen Besichtigungstermin hatte Mimi ihre Unterschrift unter den Mietvertrag über die ›sonnendurchflutete Einzimmerwohnung im wunderschönen Linzer Stadtteil Alturfahr‹ gesetzt und die Kaution und die Ablöse für die alten Möbel überwiesen. Auf einen Schlag brachte sie sich so um nahezu all ihre Ersparnisse. Dennoch fühlte sie sich befreit. Mit einem zufriedenen Seufzen ließ sie sich bäuchlings auf die Schlafcouch fallen. Doch als ihr klar wurde, was auf dem alten Teil wohl schon alles passiert war, sprang sie schnell wieder auf. Sie hatte ohnehin keine Zeit, sich auszuruhen. Eine Menge Arbeit wartete auf sie, denn sie war fest entschlossen, diese Wohnung in ihr Paradies zu verwandeln. Frische Farbe an den Wänden, eine gründliche Putzaktion, die eine oder andere Kerze und eine Topfpflanze würden einiges dazu beitragen. 
Mimi blieb bloß dieses eine Wochenende, um ihre umfassende To-do-Liste abzuarbeiten. Denn am Montag fing sie als Servicemitarbeiterin im Parkhotel an. Das stylische, an einem Park gelegene Innenstadthotel gehörte zur berühmten Soyer-Group und hatte erst vor zwei Jahren seine Eröffnung gefeiert. Für Berufseinsteiger bot die Hotelkette ausgezeichnete Chancen, in der Hotellerie Fuß zu fassen und die Karriereleiter hochzuklettern. Es gab unzählige Tourismusschulen und die Absolventen wussten, dass man ganz unten anfangen musste. Wenn man Glück hatte, kam man als Concierge oder Kellnerin in einem namhaften Hotel unter. Wenn nicht, rackerte man sich schlimmstenfalls jahrelang in schäbigen Pensionen ab. 
Warum Mimi ohne Vorstellungsgespräch lediglich aufgrund ihrer Bewerbungsunterlagen eingestellt wurde, war ihr ein Rätsel. Ihre Noten waren eher durchschnittlich. Die vier Pflichtpraktika in ihrer Schulzeit hatte sie alle im Zehn-Kilometer-Radius ihres Elternhauses im Mühlviertel abgeleistet und auch sonst hatte sie keine speziellen Kenntnisse vorzuweisen. Natürlich hakte sie nicht nach. Nach einem kurzen Telefonat mit dem gelangweilt wirkenden Hoteldirektor schloss sie einen Standardvertrag per Mail und fing an zu packen.